Niveau C1; 832 Worte
Deutschland ist in aller Welt für Industrieprodukte mit hoher Qualität bekannt. In so manchem Land hört ein Deutscher, falls er sich als ein solcher zu erkennen gibt, von dortigen Gesprächspartnern eine Aufzählung deutscher Auto- und anderer Industriemarken als Kenntnisbeweis für Deutschland. Wofür Deutschland aber ebenso berühmt scheint, ist die vielbeschworene Pünktlichkeit seiner Bewohner. Auch wenn diese Außensicht sicherlich übertrieben ist, lässt sich sagen, dass Deutsche im Schnitt viel Wert auf Pünktlichkeit legen. So sehen die Deutschen die Pünktlichkeit als die sprichwörtliche Tugend der Könige. Darin spiegelt sich auch die Auffassung wider, dass das rechtzeitige Erscheinen zu einem Termin oder zur Arbeit höflich und Verspätungen unhöflich, ja sogar respektlos seien. Unterdessen wird bei diesem Sprichwort aber oft übersehen, dass Könige nicht pünktlich erscheinen mussten, um pünktlich zu sein. Alles wichtige fing ohnehin nur an, wenn sie erschienen. Sie waren also von Haus aus pünktlich.
Man kann aber sagen, dass sich die Sicht auf die Pünktlichkeit auch in Deutschland zumindest im privaten Bereich mit der Zeit verändert hat. Waren Menschen früher noch darauf angewiesen, dass ihre Freunde zur angesetzten Zeit erschienen, ließ sich eine entscheidende Änderung in diesem Sachverhalt mit Einführung von Mobiltelefonen beobachten. Fürderhin war es möglich, den Personen, die man treffen wollte, noch schnell mitzuteilen, dass man sich verspäte, vorzugsweise zum Zeitpunkt der Verabredung. Für die pünktlich Erscheinenden war das durchaus ein Ärgernis, da sie in der Zeit, die sie nun mit Warten verbrachten, anderweitige und sinnvollere Aufgaben hätten erledigen können. Heute ist es oft Sitte, sich vor dem Treffen noch einmal beidseitig der Pünktlichkeit der anderen zu versichern.
Pünktlichkeit hat viel mit dem eigenen Zeitempfinden zu tun. Zeit lässt sich laut einiger Kultur- und Kognitionsforschen entweder „sequenziell“ oder „synchron“ auffassen, ein Punkt, in dem sich Kulturen stark unterscheiden. In Kulturen mit sequenziellem Zeitverständnis wird die Zeit oft genau verplant. Zeit ist wertvoll und darf nicht verschwendet werden. Dazu gehört auch das Pochen auf pünktlichem Erscheinen und der rechtzeitigen Erfüllung von Aufgaben. In Kulturen, in denen Zeit eher synchron verstanden wird, gehen Menschen flexibler mit der Zeit um. Aufgaben erledigt man gerne parallel, während die Beziehung zu den Mitmenschen entscheidender ist als die Einhaltung von Terminen. Dabei haben beide Herangehensweisen an die Zeit gleichermaßen ihre Berechtigung und können gleichermaßen zum Erfolg führen.
Probleme entstehen erst dann, wenn diese beiden Zeitkonzepte aufeinanderprallen. Werden in der Arbeits- oder Bildungswelt Gruppen aus Individuen gebildet, die sich in dieser Hinsicht unterscheiden, kommt es oft zu Konflikten. Es werden Vorwürfe laut, bestimmte Kollegen seien chronisch unpünktlich, währen diese entgegnen, man solle das bitte nicht so ernst nehmen. Auch wenn Menschen an einen Ort ziehen, dessen Kultur Zeit anders einschätzt, wird das zum Problem, da das Verständnis für das Gegenüber sich erst einstellen muss. Dann gilt man als Fremder schnell als schwierig.
Das ist ein Grund, warum viele junge Auszubildende und Fachkräfte, die im Rahmen früherer Mobilitätsprojekte aus Ländern Südeuropas oder des nahen Ostens nach Deutschland kamen, oft aneckten. Für sie war es völlig akzeptabel, fünfzehn Minuten oder sogar eine halbe Stunde nach Schichtbeginn zu erscheinen. Das darauffolgende Donnerwetter kam für sie tatsächlich aus heiterem Himmel. Und das gegenseitige Unverständnis für die jeweilige Position verstärkte das Problem noch. Am Ende brachen viele der Auszubildenden und Fachkräfte ihre Ausbildung vorzeitig ab, beziehungsweise kündigten und kehrten in ihre Heimatländer zurück. Oder die Arbeitgeber lösten angesichts der vermeintlichen Unwilligkeit der Angestellten, sich anzupassen, die Ausbildungs- und Arbeitsverhältnisse auf.
Inzwischen wird bei der Einstellung von Auszubildenden und Fachkräften aus anderen Kulturkreisen darauf geachtet, das gegenseitige Verständnis zu stärken. Arbeitgeber sollen verstehen, dass die Neuankömmlinge erst Zeit benötigen, um sich an die neue Lebens- und Arbeitsweise zu gewöhnen. Die neuen Arbeitskräfte ihrerseits sollen verstehen, dass die Betriebe an Zeitvorgaben gebunden sind, wobei sich ihr Zuspätkommen in finanziellen Verlusten für den Betrieb niederschlagen und damit den eigenen Arbeitsplatz gefährden kann.
Im Schul- und Hochschulwesen führt das unterschiedliche Zeitempfinden ebenfalls zu Schwierigkeiten, wenn Lernende regelmäßig verspätet zum Unterricht erscheinen oder Leistungen verspätet einreichen. Von Lehrkräften darauf angesprochen, versprechen die Lernenden einen Sinneswandel. Sollte dieser aber ausbleiben, sehen manche Lehrkräfte schnell ihre Autorität untergraben sowie ihre Leistungen verachtet und honorieren dies bisweilen mit schlechten Bewertungen. Für die ausländischen Lernenden sind die mitunter vor der Klasse durchgeführten Maßregelungen peinlich. Zudem können sie diese nicht unmittelbar auf ihr Verhalten zurückführen. Ferner leiden ihre Noten, was den Bildungserfolg schmälert. Beides kann zu einer nachhaltigen Demotivierung führen. Das herbeigesehnte Studium im Ausland wird damit schnell zur Enttäuschung. Und so kommt zum verständlichen Kulturschock auch noch das Gefühl, nicht willkommen zu sein.
Eine Lösung könnte sein, sich in die jeweils anderen hineinzuversetzen. Wenn ich verstehe, warum das Gegenüber so handelt, kann ich mich nicht nur besser darauf einstellen. Auch fällt es mir leichter darüber zu reden und meine Erwartungen angemessen zu kommunizieren. So können Konflikte verhindert oder abgebaut werden.
Flexibilität ist auf beiden Seiten gefragt, sowohl von den Alteingesessenen als auch von den Neuankömmlingen. Denn nur so ist in einer zunehmend globalisierten Welt, in der Menschen häufiger den Ausbildungs- und Arbeitsplatz über Kulturgrenzen hinweg wechseln, ein erfolgreiches und harmonisches Zusammenleben möglich.
Vokabeln
- vielbeschworen – legendär; häufig genannt
- von Haus aus – grundsätzlich
- angesetzt – vereinbart fürderhin – ab dieser Zeit; anschließend
- vorzugsweise – besonders; am liebsten
- beidseitig – gegenseitig
- pochen – verlangen; erwarten
- Berechtigung – Recht; Erlaubnis
- aufeinanderprallen – kollidieren
- laut werden – geäußert; genannt
- entgegnen – erwidern; antworten
- sich einstellen – sich entwickeln
- anecken – negativ auffallen; Missfallen auslösen
- Donnerwetter – deutliche Kritik; Standpauke
- aus heiterem Himmel – unvermittelt unerwartet
- angesichts – wegen
- sich niederschlagen – sich in einer Weise auswirken
- Sinneswandel – Änderung der eigenen Einstellung
- bisweilen – manchmal
- Bewertungen – hier: Noten
- ferner – überdies; außerdem
- schmälern – verringern
- verständlich – nachvollziehbar; erwartet
Hinweise zur Grammatik
Linksattribut - Rechtsattribut.
Im Deutschen ist es möglich, Informationen zu einem Nomen vor oder nach diesem zu platzieren. Wird die entsprechende Information vor dem Nomen platziert, spricht man von einem Linksattribut, danach platziert, von einem Rechtsattribut. Linksattribute sind häufig Partizipialkonstruktionen. Dabei wird ein Partizip I oder II verwendet.
Partizip I ist das Infinitiv eines Verbs + d. Damit wird das Verb zu einem Adjektiv, welches entsprechend dekliniert werden kann.
Partizip II ist die Form des Verbs, die im Perfekt und im Plusquamperfekt verwendet wird. Auch diese kann entsprechend dekliniert werden.
Man kann dieselbe Information aber auch nach dem Nomen stellen. Hierfür werden häufig Relativsätze verwendet. Dabei wird entweder direkt nach dem entsprechenden Nomen oder kurz danach ein Komma gesetzt und der Nebensatz mit einem Relativpronomen begonnen.
Allgemein lässt sich sagen, dass Linksattribute häufig in wissenschaftlichen Texten verwendet werden. Sie sind in der Regel kürzer als Rechtsattribute und unterbrechen den Satzfluss weniger. Allerdings sind sie auch schwerer zu verstehen.
Es ist möglich, Links- und Rechtsattribute jeweils umzuformen, was als Aufgabe häufig in der DSH-Prüfung oder dem Prüfungsteil Deutsch der Feststellungsprüfung vorkommt.
Im Folgenden wird anhand von Beispielen die Möglichkeit der Umformung aufgezeigt.
Beispiele aus dem Text
Alternative
Fürderhin war es möglich, den Personen, die man treffen wollte, noch schnell mitzuteilen
Alternative
Fürderhin war es möglich, den zu treffenden Personen noch schnell mitzuteilen
Für die ausländischen Lernenden sind die mitunter vor der Klasse durchgeführten Maßregelungen peinlich.
Alternative
Für die ausländischen Lernenden sind die Maßregelungen, die mitunter vor der Klasse durchgeführt werden, peinlich.
Toller Text!
Toller Text 2